Drei Drittel und ein viertes

Die Idee für diesen Blog entstand, als ich im Basler Unispital an die Decke starrte. Meine Gedanken kreisten um die Entzündung an meiner Herzklappe und vieles mehr. In diesem Moment kam mir die Idee, wieder zu schreiben. Vor etlichen Jahren, in einer anderen Zeit des Neubeginns, habe ich das schon einmal getan. Damals war ich nicht nur im Wortsinn unterwegs, sondern auch innerlich. Ich reiste um die Welt und begriff, dass „unterwegs sein“ nicht nur eine körperliche Bewegung bedeutet, sondern ebenso eine des Geistes. Beides macht glücklich. Verharrt man hingegen zu lange im Stillstand, leiden Körper und Seele.

Das Spital brachte mich diesem Stillstand näher, als ich ihm jemals war – zumindest körperlich. In der Innenseite meines rechten Oberarms steckte ein „Zugang“, durch den ich die Medis erhielt. Dieser fixierte mich, wie eine Kette den Hofhund. Ich hätte aus der Haut fahren können. Aber wo Schatten ist, ist auch Licht. Plötzlich und unerwartet war meine Zeit leer. Es gab nichts mehr zu entscheiden, nichts zu managen. Meine Welt reduzierte sich auf den leise pumpenden Muskel in meiner Brust. Alles, was bis dahin wichtig erschien, löste sich zwischen Visite und Krankenhausgeruch auf. Als die Angst wich, spürte ich nach langer Zeit etwas Neues: Langeweile. Und ich merkte, wie gut sie tat.

Im ersten Absatz schrieb ich, dass ich 58 bin. 58 Jahre jung, nicht alt. Dieser Unterschied ist wichtig. Damit stehe ich an einem Wendepunkt – dem Übergang ins dritte Drittel des Lebens. Ein Alter, in dem die Karriere langsam hinter die Enkel zurücktritt, in dem körperliche Kraft der geistigen Raum gibt. Es ist die Zeit, die man früher „Ruhestand“ nannte, auch wenn dieser Begriff heute nicht mehr passt. „Ruheständler“ setzen sich kaum noch zur Ruhe. Sie starten neu durch. Und wie Hermann Hesse es formulierte: Den Zauber des Anfangs kann man in jedem Alter genießen.

Für mich besteht dieser Zauber darin, meinem Neustart Sinn zu geben. Diesen Entschluss fasste ich tatsächlich, als ich im Spital an die Decke starrte. Ich dachte über mein bisheriges Leben nach: Wo komme ich her, wo stehe ich, wo will und wo kann ich noch hin? Die ersten beiden Fragen waren leicht zu beantworten. Beim ersten Drittel, dem Heranwachsen, war ich dabei. Und auch das zweite Drittel, das Erwerbsleben, kenne ich. Da komme ich her, da stehe ich. Doch beim dritten Drittel wird es schwieriger. Ich bin kein Wahrsager, aber ich kann träumen. Mein Plan ist, dass dieses dritte Drittel ein gutes Leben wird. Vielleicht finde ich auf dem Weg ja sogar einen passenden Namen dafür. Es soll jedenfalls ein aktives Leben sein – voller gesunder Tage und mit wenigen Einschränkungen. Vor allem aber soll es keine Angst machen.

Ein bisschen träume ich wohl, das gebe ich zu. Denn für mich soll das dritte Drittel das beste aller Drittel werden. Der Abschied vom Leben gehört für mich aber nicht dazu. Diesen möchte ich bewusst abgrenzen. Nicht, weil ich das Thema Tod scheue, sondern weil dieser oft mit Krankheit, Verlust der Selbstständigkeit und Pflegebedürftigkeit einhergeht – Dinge, die sich niemand wünscht.

Und doch gehört der Tod zum Leben, genauso wie die Phase, die ihn einleitet. Deshalb müssen wir den Abschied genauso wertschätzen wie die Zeit davor. Ich möchte diese Zeit das „vierte Drittel“ nennen, ein Annex an ein komplettes, ganzes Leben. Und ich hoffe, dass auch der letzte Akt uns, wie Hesse sagt, „... neuen Räumen jung entgegen sendet ...“. Niemand konnte bisher davon berichten, wie das aussieht. Vielleicht war ich genau deshalb immer neugierig auf jeden einzelnen der vielen neuen Wege, die ich gegangen bin. Es kam jedenfalls meist etwas Gutes dabei heraus, auch wenn alle schwer waren. Darum: „... wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde.“ Der Gedanke gefällt mir. Sehr.

Ich freue mich darauf, bald mehr über dieses dritte von vier Dritteln aufzuschreiben. Und ich freue mich darauf, zu lernen, wie es sich darin lebt. Im nächsten Blog diskutiere ich die Frage, was ein gutes Leben im dritten Drittel überhaupt sein könnte. Freu auch du dich darauf.

Herzlichst, Dein Jürgen