Wirksam werden
Es war 1981, mein erstes Lehrjahr als Baulehrling. Wir lernten Mauern. Bis zu diesem Tag hatten wir nur mit Sand gearbeitet, um unsere Übungswände am Ende des Tages wieder einreißen zu können. Doch heute wurde es ernst: Ziegel, Mörtel, Kelle, Wasserwaage, Hammer und Schnur lagen bereit. Die Anspannung ließ mich sogar die Pause vergessen.
Am Abend standen zwei Wände dort, wo vorher nichts war – eine 24 cm dick, die andere 11,5 cm. Sie sollten später den Eingang zu einer Garderobe bilden. Ich staunte über mich selbst. Zum ersten Mal spürte ich bewusst, was es bedeutet, etwas mit den eigenen Händen zu erschaffen. Meine Arbeit hatte einen Sinn, ich hatte etwas bewirkt. Es war das erste Mal, dass ich diese besondere Verbindung zu meinem Tun wahrnahm – das Gefühl, „wirksam“ zu sein. Ich beschloss, es mir zu merken.
Selbstwirksamkeit – Die Wissenschaft dahinter
Dieses Gefühl der Selbstwirksamkeit wurde in vielen Studien untersucht. Die Erkenntnisse lassen sich so zusammenfassen: Menschen, die sich ihrer eigenen Einflussnahme bewusst sind, haben es oft leichter, Verhaltensweisen zu ändern. Sie schaffen es eher, mit dem Rauchen aufzuhören, regelmäßig Sport zu treiben oder sich aus unglücklichen Situationen zu lösen. Sie glauben an ihre Fähigkeit, ihr Leben aktiv zu gestalten, und sind in der Regel ausdauernder, optimistischer und erfolgreicher. Statt an Herausforderungen zu verzweifeln, nehmen sie ihr Schicksal selbst in die Hand.
Früher war dieses Gefühl für viele Menschen selbstverständlich. Jahrtausendelang waren wir so eng mit unserer Arbeit verbunden, dass wir gar nicht anders konnten, als sie in ihrer Wirkung zu erleben. Doch mit der Industrialisierung änderte sich das: Die Arbeitsteilung entzog vielen Menschen die direkte Verbindung zu ihren Ergebnissen. Im digitalen Zeitalter verstärkte sich dieser Trend. Immer mehr Tätigkeiten bestehen aus abstrakten Prozessen, deren Resultate kaum greifbar sind. Der Verlust dieser spürbaren Wirksamkeit wird von Soziologen und Psychologen als ein wesentlicher Faktor für die zunehmenden psychischen Erkrankungen gesehen.
Zurück zum Wesentlichen – Unser Lebensplan fürs dritte Drittel
Unser Plan für die nächste Lebensphase trägt den Titel: „Weniger“. Wir haben uns bewusst von vielem getrennt, was uns früher beschäftigte, um Raum für das zu schaffen, was wirklich zählt. Wir hoffen, dass dieses „Weniger“ auf der anderen Seite ein „Mehr“ bedeutet – ein Mehr an Selbstwirksamkeit.
Ein zentraler Bestandteil dieses Plans ist unser Garten. Er soll nicht nur Nahrung liefern, sondern auch ein Ort für ein gutes Leben sein. Statt eines bloßen Ziergartens mit Obstbäumen wollen wir ihn nach den Prinzipien der Permakultur bewirtschaften – nachhaltig, im Einklang mit der Natur. Unser altes Gartenhaus wurde zu einem energieeffizienten „Midi House“, mein Elternhaus zu einem Ferienhaus für Familie und Freunde. Es gibt viel zu tun, nicht nur im Garten.
Die unerwartete Rückkehr zur Gartenarbeit
Dabei war Gartenarbeit in meiner Jugend eher ein Ärgernis. In den späten 70ern und frühen 80ern war es kaum eine größere Strafe, als draußen Unkraut zu jäten, Rasen zu mähen oder Kompost umzusetzen, während meine Freunde an unserem Grundstück vorbeizogen, um sich zu vergnügen. In der DDR gab es für solche Arbeiten keine Handwerker – wer etwas wollte, musste es selbst tun. Meine Eltern taten es, und ich folgte, wenn auch oft widerwillig.
Später, als ich meine Ausbildung als Baufacharbeiter begann, verpflichteten mich meine handwerklichen Fähigkeiten geradezu, zu Hause mit anzupacken. Nach und nach bekam unser Grundstück seine heutige Form.
Damals stritt ich oft mit meinen Eltern über die vielen Pflichten. Heute bin ich dankbar für ihre Hartnäckigkeit. Während viele meiner Altersgenossen aus der Stadt nicht wissen, wie man Beete anlegt oder Gartenabfälle sinnvoll verwertet, habe ich all das nebenbei gelernt. Und nun, Jahrzehnte später, kommt mir dieses Wissen wieder zugute. Wenn ich heute im Garten arbeite, denke ich oft: Vielleicht ist das Geheimnis eines erfüllten Lebens nicht das Was, sondern das Wie. Egal ob Hausbau oder Gartenarbeit – es geht darum, etwas zu hinterlassen, das greifbar ist. In einer Welt voll mit digitalem Zeug fühlt sich das verdammt gut an.
Ein Vermächtnis, das bleibt
Kurz vor seinem Tod lag mein Vater im Erfurter Helios-Klinikum. Ich erzählte ihm von den ersten beiden Wänden, die ich dort, im Nachbargebäude, als Lehrling gemauert hatte. Er fragte, ob sie noch stehen. Also ging ich hinüber und sah nach. Und tatsächlich: Direkt neben dem Eingang standen sie noch immer, fast so, wie ich sie vor über 35 Jahren verlassen hatte. In diesem Moment durchströmte mich wieder dieses Gefühl – die Freude darüber, etwas Bleibendes geschaffen zu haben.
Danke fürs Lesen.
Jürgen