Tun und Sein
Aufwachen ist jeden Tag anders. Heute weicht der Schlaf dem Wachsein in kleinen Wellen. Das Licht des Tages drängt sich zuerst als Funke, dann in Schüben durch meine Lider. Nach einem Weilchen ist es hell. Links neben mir liegt verstrubbeltes braunes Haar, aus dem ein Paar braune Augen lächelt, als hätten sie mein Wachwerden beobachtet. Das Lächeln wird Lachen und geht in eine Umarmung über und die in ein Ringkämpfchen. Nicole gewinnt dabei den ersten Platz in der morgendlichen Badnutzungsreihenfolge (weil ich sie lasse 😉). „Zur Strafe“ muss ich Kaffee machen. Seit wir diese sündteure Mühle aus dem Schwarzwald haben, wird der Espresso immer schön frisch gemahlen. Per Handkurbel. Zuerst fand ich das blöd, weil ... es dauert. Seit wir aber der Zeit die Herrschaft über unsere Leben Stück für Stück abknöpfen, darf Kaffee mahlen dauern, genau wie viele andere Dinge, die „Weile wollen“, um gut zu werden.
Nach wenigen Minuten schnorchelt die „Bialetti“ leise auf dem Herd. Die achteckige Kanne ist neben dem blauen Nationaltrikot das italienischste, dass man als Fan des Stiefellandes sein Eigen nennen kann. Wer mit ihr Espresso macht, lässt die Welt wissen, dass er Zeit hat. Sie erzählt vom „dolce far niente“, dem „süßen Nichts“ der Italiener, und steht wie die Handkurbel der Kaffeemühle für den Lebensstil, in den wir im dritten Drittel hineinwachsen wollen. Als ihr Geräusch zu einem Fauchen wird, nehme ich die Kanne vom Herd. Just in dem Moment kommt Nicole aus dem Bad und ich gieße die beiden ganz und gar unitalienischen „Mugs“ halbvoll.
Es ist nicht lange her, dass wir beide in harten, dafür hoch bezahlten Jobs arbeiteten. 24/7 standen wir unter Strom, schliefen und erholten uns zu wenig und hatten kaum anderes, als die Arbeit im Kopf. Wir fühlten uns wichtig und das war meist ein geiles Gefühl ... spätestens dann, wenn es am 25. „Schmerzensgeld“ gab. Das „dolce far niente“ suchten wir nicht und wenn, dann an den Wochenenden, auf teuren Kurztrips oder im Besitz von Zeug, dass sich nicht jeder leisten kann. Das Leben raste. Selbst der Kaffee kam sekundenschnell aus der Jura. Sonst passte zwischen Aufstehen und Schlafen nur Arbeit und was man hineinzwängte. Damals hätte ich gesagt: „Wir schufteten schwer“, wenn ich je darüber nachgedacht hätte. Es war das exakte Gegenteil vom süßen Leben, wobei uns Gedanken darüber, ehrlich gesagt, nur selten in den Sinn kamen.
Es ist nicht lange her, dass wir beide in harten, dafür hoch bezahlten Jobs arbeiteten. 24/7 standen wir unter Strom, schliefen und erholten uns zu wenig und hatten kaum anderes, als die Arbeit im Kopf. Wir fühlten uns wichtig und das war meist ein geiles Gefühl ... spätestens dann, wenn es am 25. „Schmerzensgeld“ gab. Das „dolce far niente“ suchten wir nicht und wenn, dann an den Wochenenden, auf teuren Kurztrips oder im Besitz von Zeug, dass sich nicht jeder leisten kann. Das Leben raste. Selbst der Kaffee kam sekundenschnell aus der Jura. Sonst passte zwischen Aufstehen und Schlafen nur Arbeit und was man hineinzwängte. Damals hätte ich gesagt: „Wir schufteten schwer“, wenn ich je darüber nachgedacht hätte. Es war das exakte Gegenteil vom süßen Leben, wobei uns Gedanken darüber, ehrlich gesagt, nur selten in den Sinn kamen.
Dann kam die „Zeit des Schmeißens“ und nichts blieb, wie es war. Zuerst schmiss Nicole ihren Job. Sie hatte bis dahin als Markenanwältin für einen amerikanischen Konzern gearbeitet und war müde, ausgebrannt. Erstmal ließ sie die Seele baumeln und tat nichts. Dann mietete sie ein Atelier und begann zu töpfern. Nach und nach erholte sie sich. Mich schmiss dann mein Herz. Und zwar auf die Bretter. Die Angst sterben zu müssen, ist weg, aber das Herz spinnt ab und an noch immer. Viel zu viele Jahre auf der Überholspur fordern ihren Tribut.
Wie heute saßen wir während dieser „Auszeit“ oft beim Kaffee und überlegten, was werden soll: aus uns selbst, uns als Paar, unserer Arbeit, eigentlich aus unserem ganzen Leben. Manchmal hatten wir Angst, denn schließlich befanden wir uns in einer veritablen Lebenskrise. Schnell war aber klar, dass Aufgeben keine und der Neuanfang die einzige Option war. Zu viel hatten wir beide schon gelitten, weil Menschen aufgegeben hatten. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ wurde so etwas wie ein Mantra. Wir wollten etwas Neues. Finanziell wären wir eine Weile safe. Es gibt da so eine Milchmädchenrechnung, nach der man einfach nie mehr ausgeben darf, als man hat. So banal das klingt, darauf einigten wir uns und beschlossen, unser gemeinsames Leben unter ein neues Motto zu stellen: „Weniger“.
Dieses weniger meint dabei aber nicht nur und nicht unbedingt weniger Geld auszugeben. Es meint vor allem weniger der unendlichen Optionen zu nutzen, die ein westliches Leben bietet. Ganz zuvorderst meint es aber, weniger zu „tun“. Tätig sein, ist in den letzten dreißig Jahren zum bestimmenden Merkmal des Menschen geworden. Wer nichts tut, ist nichts wert. Schon beim Kennenlernen lautet darum eine der ersten Fragen „Und was machst du so?“ Fast niemand scheint sich dafür zu interessieren, wer wir sind, oder hat dich eine neue Bekanntschaft schon mal gefragt „Wer bist du?“ Quintessenz: Weniger tun, damit wir mehr sein können.
Irgendwann stellt Nicole fest, dass sie mit ihrem Beruf noch eine Rechnung offen hat. Just in dem Moment, tauchte ein Job auf. Egal, ob „vom Universum gesendet“ oder dem Zufall geschuldet, fand sie eine Tätigkeit, nach der sie sich lange gesehnt hatte, und begann wieder zu arbeiten, für weniger Geld als früher, dafür zu ihren Bedingungen. Ihren Neigungen entspricht die Arbeit schon mal. Ob sie in den sich gerade entwickelnden Lebensplan des „Weniger“ passt, wird sich finden.
Gerade schlürfe ich den Rest meines Kaffees und überlege, ob das morgendliche Espressokochen Tun ist oder Sein. Wahrscheinlich beides. Wie bei den meisten Dingen kommt es wohl auf die Balance an. Je besser sie ist, desto besser das Leben. Oder so ähnlich 😉
Danke fürs Lesen und ein Like ↙️🙏😊
Jürgen
Wie heute saßen wir während dieser „Auszeit“ oft beim Kaffee und überlegten, was werden soll: aus uns selbst, uns als Paar, unserer Arbeit, eigentlich aus unserem ganzen Leben. Manchmal hatten wir Angst, denn schließlich befanden wir uns in einer veritablen Lebenskrise. Schnell war aber klar, dass Aufgeben keine und der Neuanfang die einzige Option war. Zu viel hatten wir beide schon gelitten, weil Menschen aufgegeben hatten. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ wurde so etwas wie ein Mantra. Wir wollten etwas Neues. Finanziell wären wir eine Weile safe. Es gibt da so eine Milchmädchenrechnung, nach der man einfach nie mehr ausgeben darf, als man hat. So banal das klingt, darauf einigten wir uns und beschlossen, unser gemeinsames Leben unter ein neues Motto zu stellen: „Weniger“.
Dieses weniger meint dabei aber nicht nur und nicht unbedingt weniger Geld auszugeben. Es meint vor allem weniger der unendlichen Optionen zu nutzen, die ein westliches Leben bietet. Ganz zuvorderst meint es aber, weniger zu „tun“. Tätig sein, ist in den letzten dreißig Jahren zum bestimmenden Merkmal des Menschen geworden. Wer nichts tut, ist nichts wert. Schon beim Kennenlernen lautet darum eine der ersten Fragen „Und was machst du so?“ Fast niemand scheint sich dafür zu interessieren, wer wir sind, oder hat dich eine neue Bekanntschaft schon mal gefragt „Wer bist du?“ Quintessenz: Weniger tun, damit wir mehr sein können.
Irgendwann stellt Nicole fest, dass sie mit ihrem Beruf noch eine Rechnung offen hat. Just in dem Moment, tauchte ein Job auf. Egal, ob „vom Universum gesendet“ oder dem Zufall geschuldet, fand sie eine Tätigkeit, nach der sie sich lange gesehnt hatte, und begann wieder zu arbeiten, für weniger Geld als früher, dafür zu ihren Bedingungen. Ihren Neigungen entspricht die Arbeit schon mal. Ob sie in den sich gerade entwickelnden Lebensplan des „Weniger“ passt, wird sich finden.
Gerade schlürfe ich den Rest meines Kaffees und überlege, ob das morgendliche Espressokochen Tun ist oder Sein. Wahrscheinlich beides. Wie bei den meisten Dingen kommt es wohl auf die Balance an. Je besser sie ist, desto besser das Leben. Oder so ähnlich 😉
Danke fürs Lesen und ein Like ↙️🙏😊
Jürgen